Geschrieben von Grégoire Depeursinge, Managing Partner AIMS International Switzerland

«Schafft das Arbeitszeugnis ab», «weg mit diesem Relikt aus alten Zeiten», «sinnlos»… Das Arbeitszeugnis, diese Besonderheit der DACH Region (Deutschland, Österreich, Schweiz) wird immer öfter verpönt und für unnütz gehalten: die zwangsmässig wohlwollende Formulierung verunmögliche negative Aussagen, viele schreiben das Zeugnis sogar selber, usw. hört man von allen Seiten.

Als Executive Search Consultant finde ich Arbeitszeugnisse sehr nützlich. Sicher kann man nicht alles für bare Münze nehmen, aber man kann damit unter anderem folgendes herausfinden/verifizieren:

  1. Daten: entsprechen die Daten der verschiedenen Stationen im Lebenslauf der Realität, oder hat es z.B. unerklärte Leerzeiten?
  2. Titel: Entsprechen die im Lebenslauf angegebenen Titel tatsächlich der Wahrheit oder wurden Sie übertrieben (z.B. Marketing Manager auf dem Lebenslauf und Marketingspezialist im Zeugnis)?
  3. Aufgabenumfang: Man kann einen Überblick über den Umfang der beschriebenen Stelle und die Aufgaben gewinnen und auch da wieder kontrollieren, ob diese Informationen dem Lebenslauf entsprechen (hat der Kandidat z.B. angegeben, er habe ein gewisses Projekt geführt, in dem er eigentlich nur Mitarbeiter war?)
  4. Persönlichkeit: Man kann allenfalls ein Gefühl für die Persönlichkeitsmerkmale entwickeln, vor allem wenn mehrere Zeugnisse die gleichen Charakterzüge hervorheben
  5. Stärken und Schwächen: Zeugnisse geben vor allem Auskunft über die Stärken eines Kandidaten. Wenn diese in verschiedenen Dokumenten erwähnt werden, kann dies schon einen Anhaltspunkt geben. Man sollte sich aber auch fragen, welche Punkte im Zeugnis nicht erwähnt werden, da diese möglicherweise den Schwachstellen entsprechen
  6. Erfolg in der Stelle: wenngleich man vorsichtig sein muss, kann das Zeugnis doch einen Hinweis dazu geben, ob die Trennung freiwillig war und ob der Arbeitgeber mit dem Mitarbeiter zufrieden war oder nicht
  7. Referenzauskunft: als Profi in der Rekrutierungsbranche hatte man sehr oft schon einmal Kontakt zu der Person, die das Zeugnis erstellt hat. Wenn man diese kennt, ist es umso leichter eine entsprechende mündliche Auskunft/Bestätigung einzuholen

Alles in allem sind Arbeitszeugnisse bei der Rekrutierung von grossem Nutzen. Vor allem mit der Erfahrung ist es möglich, auch aus Dokumenten, die zu wohlwollend verfasst wurden, interessante Fragestellungen zu ziehen und somit die Chancen einer Fehlrekrutierung zu vermindern. Zudem kommt, dass es immer ein Vorteil ist, wenn man verschiedene Informationsquellen zur Verfügung hat, bevor man entscheidet, ob ein Kandidat dem gewünschten Profil entspricht. Arbeitszeugnisse geben nicht nur konkrete Auskunft über die frühere Tätigkeit, sondern sie erlauben auch die Sicht aus einer anderen perspektive und dies wiederum reduziert den Einfluss von kognitiven Verzerrungen bei der Beurteilung eines Kandidaten.

AIMS Schweiz

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